Rede auf Großdemo in Istanbul Erdogan stellt Todesstrafe in Aussicht

Istanbul · Auf Einladung von Recep Tayyip Erdogan haben sich in Istanbul mehr als eine Million Menschen zur bislang größten Kundgebung gegen den Putschversuch in der Türkei versammelt. In seiner mit Spannung erwarteten Rede kritisierte der türkische Präsident die deutschen Behörden und stellt die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht.

Türkei: Erdogan ruft das Volk zur Großdemo gegen den Putsch
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Erdogan ruft das Volk zur Großdemo gegen den Putsch

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Foto: afp, OZN

Zu der Veranstaltung drei Wochen nach der Niederschlagung des Putsches kamen am Sonntag auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP und der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli. Hauptredner der "Demokratie- und Märtyrer-Versammlung" ist Erdogan selber, der das Volk in seiner Funktion als "Präsident und Oberbefehlshaber" eingeladen hat.

Der Staatssender TRT nannte Erdogan den "Anführer, der in seine Flagge und sein Vaterland verliebt ist". TRT sprach von Millionen Teilnehmern an der Kundgebung. Erdogan nahm zu Beginn ein Bad in der Menge, wie auf Fernsehbildern zu sehen war. Menschen umarmten den Präsidenten und schossen Selfies mit ihm. Ministerpräsident und AKP-Chef Binali Yildirim hat Parteiflaggen untersagt, um eine Veranstaltung über Parteigrenzen hinweg zu ermöglichen. Auf Fernsehbildern war ein Meer an türkischen Flaggen zu sehen.

In seiner Rede kritisierte Erdogan dann die deutschen Behörden scharf, weil er sich vor einer Woche per Videozuschaltung nicht an seine Anhänger auf einer Demonstration in Köln wenden durfte. Kurdischen Extremisten sei es dagegen in Deutschland erlaubt worden, per Videokonferenz zu senden. "Wo ist die Demokratie?", rief Erdogan.

Zudem stellte Erdogan erneut die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht. "Wenn es (das Volk) so eine Entscheidung trifft, dann, glaube ich, werden die politischen Parteien sich dieser Entscheidung fügen", sagte Erdogan. "Ich sage es im Voraus, so eine Entscheidung vom Parlament würde ich ratifizieren." Erdogan verwies erneut darauf, dass außerhalb der EU "die überwiegende Mehrheit" der Länder die Todesstrafe habe. Die EU hat angekündigt, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen, sollte das Land die 2004 abgeschaffte Todesstrafe wieder einführen.

Die Symbolik der Großdemo

Auf einem in rot gehaltenen Transparent abgebildet: Ein Zivilist, auf seinem Hemd die türkische Flagge mit Halbmond und Stern, der sich einem Putschisten-Panzer in den Weg stellt. Solche Bilder hätten sich aus Sicht Ankaras weltweit als Symbol für den niedergeschlagenen Putsch durchsetzen sollen: Der mutige Widerstand der Zivilisten, der den Umsturzversuch vom 15. Juli tatsächlich erst scheitern ließ - und etliche Menschen ihr Leben kostete. Doch der Westen feierte nicht den "Sieg der Demokratie", sondern koppelte die (aus türkischer Sicht halbherzigen)
Verurteilungen des Putsches mit Ermahnungen an Erdogan, eben jene Demokratie nun nicht gänzlich über Bord zu werfen.

Erdogan galt in EU-Hauptstädten schon davor als "Enfant terrible", und die von ihm sogenannten "Säuberungen" nach dem Putschversuch haben es westlichen Staaten nicht leichter gemacht, sich an seine Seite zu stellen - ganz im Gegenteil. Keine Einladung für westliche Solidaritätsbekundungen sind auch Aussagen wie die von Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci, der den Putschisten droht, sie würden "wie Kanalratten krepieren". Immerhin rangen sich die Behörden dazu durch, die beim Putschversuch getöteten Umstürzler nun doch nicht auf einem eigenen "Friedhof der Verräter" zu verscharren.

Ankara kritisiert, dass sich seit dem Putschversuch kein einziger EU-Außenminister im Land blicken ließ, um Unterstützung zu zeigen. Und inzwischen eskaliert der Streit mit der EU in kaum vorstellbarem Ausmaß, wozu Österreich kräftig beiträgt: Kein Tag, an dem Wien nicht Öl ins Feuer gießt. Die Alpenrepublik fordert einen Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen und will auch gleich den (funktionierenden) Flüchtlingspakt und die Verhandlungen über Visafreiheit beenden. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu rüstet parallel dazu verbal auf - und nennt Österreich das Zentrum des "radikalen Rassismus".

Nazi-Analogien haben Hochkonjunktur

Selbst Nazi-Analogien sind längst nicht mehr tabu. "Wir erleben einen Staatsputsch von oben wie 1933 nach dem Reichstagsbrand", sagt FDP-Chef Christian Lindner, wohl ahnend, dass er seine Partei mit dem Vergleich vielleicht nicht zurück in den Bundestag, aber zumindest in die "Bild am Sonntag" bringt. Er deutet damit auch an, dass Erdogan den Putschversuch inszeniert haben könnte. Lindner ignoriert geflissentlich, dass nicht einmal Erdogans ärgste Gegner im Parlament in Ankara an diese Verschwörungstheorie glauben.

Erdogan versichert seinerseits, er sei "kein Despot oder Diktator". Anders als die Nazis betreibt der Präsident derzeit auch keine Gleichschaltung. Erdogan sucht seit dem Putschversuch den Schulterschluss mit weiten Teilen der parlamentarischen Opposition, wobei er allerdings die pro-kurdische HDP außen vor lässt.

Erdogan "umarmt" die Opposition

Auf Erdogans Einladung sollten bei der Kundgebung am Sonntagabend nicht nur Ministerpräsident und AKP-Chef Binali Yildirim, sondern auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP und der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, auf der Bühne stehen. Zusammen repräsentieren sie mehr als 85 Prozent des Wählerwillens.

Yildirim hat seine Partei außerdem schriftlich angewiesen, die Demonstration in Istanbul nicht in AKP-Festspiele ausarten zu lassen. Entsprechende Slogans sind unerwünscht, Anhänger sollen keine Parteiflaggen mitbringen - nur die Flagge der Türkei soll geschwenkt werden. An ihr wird kein Mangel herrschen: Medienberichten zufolge haben die Behörden gleich 2,5 Millionen türkische Flaggen für die Großkundgebung in Yenikapi am Marmarameer vorbereiten lassen.

Der öffentliche Nahverkehr in Istanbul bringt Demonstranten umsonst zum Versammlungsort, sogar ein Taxi-Vermittlerdienst bietet Gratis-Fahrten dorthin an. Schon Stunden vor Beginn hat sich in Yenikapi eine Menge versammelt, über der drei gigantische Flaggen wehen, auch sie sollen die Einheit der Nation signalisieren: In der Mitte die türkische Flagge, links davon eine mit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, rechts das Konterfei Erdogans.

Bald nach der Veranstaltung wird Erdogan seine erste Auslandsreise seit dem Putschversuch antreten. Sie führt ihn nicht in den Westen, dessen Haltung zu dem Umsturzversuch der Staatschef "unentschuldbar" nennt. Am Dienstag wird Erdogan vom russischen Präsidenten Wladimir Putin in St. Petersburg empfangen werden. Putin hatte Erdogan noch am Putschwochenende persönlich angerufen und sich Ermahnungen verkniffen. Die Reise nach Russland könnte einen weiteren Schritt Erdogans und der Türkei markieren - weg von der EU.

(felt/AFP/AP/dpa)
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