Interview mit EU-Justizkommissarin Reding denkt an Vereinigte Staaten von Europa

Brüssel · An diesem Montag erhält die Europäische Union den Friedensnobelpreis. EU-Justizkommissarin Viviane Reding spricht im Interview über den Preis, das Bremsen der Briten und die Vorzüge der Direktwahl.

 Viviane Reding ist seit 2010 EU-Justizministerin.

Viviane Reding ist seit 2010 EU-Justizministerin.

Foto: afp, THIERRY CHARLIER

Europa steckt in der tiefsten Krise seit Gründung der Gemeinschaft: Kommt der Friedensnobelpreis da nicht zur Unzeit?

Reding Der Friedensnobelpreis geht aus meiner Sicht gerade zur rechten Zeit an die Europäische Union. Es ist gut, dass wir Europäer von Oslo aus daran erinnert werden, dass die Europäische Union immer zuallererst ein wertegeprägtes Friedensprojekt gewesen ist und dies weiterhin bleiben muss. Wir erhalten den Preis heute nicht nur wegen der erfolgreichen wirtschaftlichen Integration in Europa, sondern vor allem wegen der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundausrichtung des europäischen Einigungsprozesses. "Mehr Europa" allein reicht also nicht. Wir brauchen auch "mehr Demokratie".

...und mehr Einheit: Die EU konnte sich zunächst nicht einigen, wer den Preis entgegennimmt. Nun reist Europa mit drei Präsidenten zur Preisverleihung. Muss das sein?

Reding Ich halte es für absolut richtig, dass neben Kommissionspräsident José Manuel Barroso — dem europäischen Regierungschef — auch Martin Schulz als Präsident des direkt gewählten Europäischen Parlaments und Herman van Rompuy als Vertreter der 27 EU-Mitgliedstaaten den Friedensnobelpreis entgegennehmen. Es wird höchste Zeit, dass wir anerkennen, dass es auch auf europäischer Ebene Exekutive, Legislative und Judikative gibt.

Wäre Europa nicht dennoch auf der Weltbühne stärker, wenn es eine Stimme hätte?

Reding Hier wünsche ich mir in der Tat mehr Einheitlichkeit. Die Europäische Kommission tritt deshalb für einen einheitlichen Sitz des Euroraums im Internationalen Währungsfonds ein. Und ich persönlich wünsche mir auch eine gemeinsame Vertretung Europas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ab 2020.

Muss die Kommission eine richtige europäische Regierung werden?

Reding Wir sollten uns nicht scheuen, das Kind beim Namen zu nennen: Ich halte die Vereinigten Staaten von Europa für die richtige Vision, um die aktuelle Krise, vor allem aber die architektonischen Defizite des Maastrichter Vertrags — eine Währungsunion ohne parallele Politische Union — mittelfristig zu überwinden. Wir brauchen klare, föderale Strukturen, Entscheidungsbefugnisse an der richtigen Stelle und starke demokratische Kontrollen dort, wo Entscheidungen getroffen werden. Das heißt auch, dass die Europäische Kommission gerade im Bereich der Wirtschaftspolitik zu einer europäischen Regierung werden muss, die vom Europäischen Parlament umfassend parlamentarisch kontrolliert wird.

Großbritannien will von mehr Integration nichts wissen. Muss London zum Mitglied zweiter Klasse werden?

Reding Die Teilnahme an weiteren Integrationsschritten muss immer eine freiwillige Entscheidung des betroffenen Mitgliedstaats sein. Im Unterschied zu den meisten EU-Staaten ist Großbritannien derzeit zu einer solchen Entscheidung nicht bereit. Das respektiere ich. Diese Haltung darf aber Länder wie Deutschland, Frankreich, Luxemburg oder Polen nicht daran hindern, neue Integrationsschritte zu vereinbaren, wie sie jetzt notwendig sind. Es ist gut, dass die geltenden europäischen Verträge einer Gruppe von EU-Staaten ermöglichen, in weiteren Politikbereichen Souveränität miteinander zu teilen. Ich halte es daher für sehr wahrscheinlich, dass die Eurostaaten bis 2020 — dann unter Einschluss der baltischen Staaten und Polens — gemeinsam Vereinigte Staaten von Europa begründen werden, während Großbritannien in einem loseren Verbund auch weiterhin an der wirtschaftlichen Integration teilnehmen wird. Letztlich müssen die Briten für sich selbst entscheiden.

Die Briten halten die EU doch seit Langem vor allem für eine Freihandelszone.

Reding Die Europäische Union ist keine Freihandelszone oder nur ein Binnenmarkt, sondern vor allem auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft. Das ist Geschäftsgrundlage für die EU-Mitgliedschaft — auch für die von Großbritannien. Ich bin daher sehr besorgt, dass Großbritannien zur Zeit systematisch praktisch alle laufenden Arbeiten in der Justiz- und Innenpolitik zu blockieren versucht. Solchen Versuchen sollten alle Mitgliedstaaten energisch entgegentreten.

Trotz Friedensnobelpreis bleibt die Akzeptanz der EU auf Rekordtief. Wie kommt Europa näher an die Bürger?

Reding Je mehr auf Europäischen Räten in Brüssel die Haushaltspolitik Frankreichs kritisiert wird, das deutsche Ehegattensplitting oder die Lohnindexierung in Luxemburg im Europaparlament auf den Prüfstand kommt oder Vorgaben zu den Beamtengehältern in Griechenland von 17 Finanzministern gemeinsam ausgehandelt werden, umso mehr wird Brüssel der Ort, wo Politik gemacht wird, die die Bürger direkt betrifft. Wir brauchen deshalb auch in Brüssel mehr direkt gewählte Politiker, die entscheiden, und weniger Technokraten. Wir brauchen die Debatte aller zentralen Entscheidungen im Europaparlament, und zwar bevor Entscheidungen gefällt werden.

Was heißt das für die Europawahl 2014?

Reding Wir brauchen 2014 einen echten kontinentalen Europawahlkampf mit europaweiten Spitzenkandidaten aller Parteien, die darum wetteifern, Kommissionspräsident und damit europäischer Regierungschef zu werden. Vielleicht brauchen wir demnächst sogar einen direkt von den Bürgern gewählten Kommissionspräsidenten.

Anja Ingenrieth führte das Gespräch.

(ing)
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