Schwerpunkt Euro-Rettung Grundgesetz für Europa

Sollen die Deutschen in einer Abstimmung über den Euro entscheiden? Seit Merkel den Rettungsschirm ESM mit weitreichenden Vollmachten ausstatten will, ist darüber eine heiße Debatte entbrannt.

Berlin Ginge es nur nach Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, würden die Deutschen in weniger als fünf Jahren über eine neue Verfassung abstimmen. "Man kann gerne mehr Rechte nach Brüssel übertragen, aber darüber muss das deutsche Volk entscheiden", sagte der CDU-Politiker in dieser Woche dem "Spiegel". Wann es so weit sein wird, wusste auch Schäuble nicht.

Seit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nun auf dem EU-Gipfel in Brüssel weitreichende Änderungen beim Euro-Retttungsschirm ESM mit ihren europäischen Partnern ausmachte, wird die Debatte darüber breiter und aufgeregter. Eine Klagewelle rollt auf das Bundesverfassungsgericht zu, weil sich Politiker aller Parteien Sorgen um eine Aufweichung der Demokratie machen.

Klar ist, dass die Abgabe an Kompetenzen an Brüssel das deutsche Grundgesetz entscheidend berührt. Es kann nur mit Zustimmung des Volkes in einer neuen europäischen Verfassung aufgehen. Eine politische Union, wie sie nicht nur Schäuble vorschwebt, wäre indes ein Gemeinschaftswerk von vielen Jahren. Der Volksabstimmung müsste ein EU-Konvent vorausgehen, in dem die Europäer entscheiden würden, welche neue Verfassung sie sich geben wollen. Erst danach würde eine Volksabstimmung über die entsprechende Änderung des deutschen Grundgesetzes Sinn machen.

Ein solcher Prozess braucht Zeit. So haben die Europäer vor dem EU-Vertrag von Lissabon, der die Abstimmungsregeln im Europäischen Rat und im Parlament entscheidend verändert, über neun Jahre lang beraten. Der Reformdruck, den die Finanzmärkte den Euro-Staaten auferlegen, könnte den Prozess diesmal um Jahre beschleunigen. Wie Schäuble meint der frühere Finanzminister Peer Steinbrück (SPD), dass eine Volksabstimmung über Europa unausweichlich sein wird. "Wer den Verfassungsrichtern aufmerksam zugehört hat, weiß, dass es anders nicht geht", sagte der SPD-Politiker. Er räumte ein: "Das wäre ein absolutes Novum", denn "wir haben das Volk nicht einmal über das Grundgesetz, über die Wiedervereinigung und über die Aufgabe der D-Mark befinden lassen". Gleichwohl sei ihm davor nicht bange. "Solch ein Referendum käme ja nicht über Nacht, sondern frühestens 2013 oder 2014. Wenn Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft gemeinsam antreten, Europa als richtige Antwort auf das 21. Jahrhundert zu erklären, dann kann man so etwas gewinnen."

Die Verfassungsrichter haben in den vergangenen Jahren mehrmals in verschiedenen Urteilen aufgezeigt, dass das Grundgesetz der Politik Grenzen setzt, wenn es darum geht, weitere Souveränitätsrechte nach Brüssel abzugeben. Im Urteil über den EU-Vertrag von Lissabon 2009 entschied das Bundesverfassungsgericht: "Ein Mindestmaß an Kompetenzen muss in Deutschland bleiben. Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre eine neue Verfassung nötig." Das klang für die meisten, als wolle Karlsruhe der EU ein für alle Mal Grenzen setzen. Eine neue Verfassung schien kaum vorstellbar. Im Urteil zu den Griechenland-Hilfen 2011 ergänzte das Gericht: Auch die Entscheidung über den nationalen Haushalt sei eine "wesentliche, nicht entäußerbare Kompetenz" des unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments.

Doch kurz nach der Entscheidung über die Griechenland-Hilfen machte sich Verfassungsrichter Peter Huber Gedanken über ein neues Grundgesetz. Das könnte sich "auf wenige geänderte Sätze" beschränken, sagte Huber. "In der Sache aber wäre es eine Revolution." Das zuvor fast Unvorstellbare wurde denkbar. Nach Artikel 146 Grundgesetz könnte das deutsche Volk eine neue Verfassung beschließen und damit der Bildung einer politischen Union in Europa zustimmen.

Das würde dann kaum weniger bedeuten als die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa — in der Hoffnung, so den Euro endlich zu retten und auf eine stabile politische Grundlage zu stellen. Nur: Wann wäre es so weit? Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, bleibt vage: "Wir befinden uns in einem Stadium, in dem es schwieriger werden dürfte, weitere Integrationsschritte mit dem Grundgesetz kompatibel zu gestalten", sagte Voßkuhle im vergangenen September. Das Grundgesetz schütze die Bürger davor, "dass sie eines Morgens aufwachen und die Bundesrepublik als souveräner Staat nicht mehr existiert, ohne dass sie vorher gefragt worden wären".

Für manche ist die "rote Linie" aus dem Lissabon-Urteil des Verfassungsgerichts allerdings bereits mit dem europäischen Fiskalpakt und dem Euro-Rettungsschirm ESM überschritten: Sowohl die Linken im Bundestag als auch die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) mit dem Verein "Mehr Demokratie" wollen gegen den Fiskalpakt und den ESM klagen. Inzwischen ist die Zahl der eingereichten Klageschriften auf sechs angewachsen. Nun ist Karlsruhe am Zuge.

(RP/jh-)
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