Düsseldorf Konflikte in Europa: Bundeswehr falsch gerüstet?

Düsseldorf · Von Helmut Michelis

Die Bundeswehr ist nur "bedingt abwehrbereit". Für diese Schlagzeile kam "Spiegel"-Redakteur Conrad Ahlers 1962 ins Gefängnis; über einen "Abgrund von Landesverrat" wetterte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer. Heute scheint die Bundeswehr überhaupt nicht mehr fähig zur Landesverteidigung. Das ist allerdings weder geheim, noch regt es irgendjemanden auf. Denn es war der - von einer desinteressierten Öffentlichkeit wenig beachtete - politische Wille, die Streitkräfte nach dem Ende des Kalten Krieges massiv zu schrumpfen und zu einer weltweit einsetzbaren Krisenfeuerwehr umzubauen.

Aber mit Russlands Muskelspielen auf der Krim und in der Ost-Ukraine ist ein längst totgeglaubtes Gespenst wieder lebendig geworden: Moskau spielt die Trumpfkarte seiner Militärmacht aus. Die Nachbarn wie Polen, Estland, Lettland oder Litauen zittern vor dieser neuen Gefahr. Erstmals seit dem Mauerfall 1989 hat der Westen deshalb wieder genauer auf Russlands Streitkräfte geschaut - und erschreckt festgestellt, wie konsequent Moskau seine nach dem Ende der Sowjetunion zunächst verrottende Armee seit 2007 aufgerüstet und modernisiert hat.

Die Bundeswehr wäre aufgrund ihrer Ausstattung zu einer konventionellen Verteidigung gegen einen Angriff der östlichen Streitkräfte nicht fähig; ein Angriff ließe sich nur mithilfe von Nuklearwaffen abwehren - so etwa lautete die "Spiegel"-Schlussfolgerung vor mehr als 50 Jahren. Sie klingt plötzlich beklemmend aktuell: Russland verfügt wieder über kampfstarke, schwer gepanzerte Großverbände, unterstützt durch Kampfhubschrauber, Artillerie und Jagdbomber.

Nach Angaben des stellvertretenden Verteidigungsministers Dmitri Bulgakow wurden 2013 mehr als 2200 neue Panzer und weitere Fahrzeuge angeschafft, 1700 weitere seien modernisiert worden. In diesem Jahr kommen 1700 Panzer und mehr als 9000 andere Militärfahrzeuge hinzu; 4500 Panzer und Kampffahrzeuge werden nach offiziellen Moskauer Angaben runderneuert. Im vergangenen Jahr haben die Truppen laut Bulgakow darüber hinaus 300 zusätzliche Raketensysteme und Artilleriegeschütze erhalten. Der neue Panzer "Armata", der 2016 in Serie gehen soll, wird erstmals ferngesteuert sein.

Die Bundeswehr, vor allem beim Heer fokussiert auf den jahrelangen Afghanistan-Einsatz, hat unterdessen vor allem in Aufklärungsdrohnen, Transportfahrzeuge, die gegen Sprengfallen besonders geschützt sind, und die Modernisierung der Infanterie investiert. Zurzeit läuft eine weitere Neuausrichtung der deutschen Streitkräfte. Sie ist geprägt von der Aussetzung der Wehrpflicht und einem starken Sparzwang - von ursprünglich zwölf Heeresdivisionen bleiben nur drei übrig. Auffällig ist das Missverhältnis zwischen Umfang und Kampfkraft: Grob überschlagen wurde die Bundeswehr seit dem Mauerfall personell auf etwa ein Drittel verkleinert, die Kampfverbände dagegen bis zu einem Zehntel.

Deutschland ist von befreundeten Staaten umgeben, eine militärische Bedrohung wie im Kalten Krieg scheint nirgends in Sicht, so lautete - zumindest bis zu Annexion der Krim - die offizielle Gefährdungsanalyse. Gegen Bestrebungen, deshalb Panzer grundsätzlich für überflüssig zu erklären, hat sich das Heer zwar erfolgreich gewehrt, allerdings auf Kosten erheblich reduzierter Stückzahlen: So behält die Bundeswehr noch 225 Kampfpanzer "Leopard"; im Kalten Krieg waren es 3349. Vom künftigen Schützenpanzer "Puma" sollen statt 410 nur noch 350 Exemplare gekauft werden, vom Vorgänger "Marder" gab es 2136 Fahrzeuge.

Bei den Nato-Verbündeten ist die Tendenz ähnlich. Die Niederlande haben sogar zum Entsetzen der vorher nicht informierten Nato ihre Panzertruppe komplett abgeschafft. Eine glaubwürdige Abschreckung gegen die vermuteten 10 000 Kampfpanzer auf russischer Seite ist damit nicht mehr darzustellen.

Die Bundeswehr hat auf dem Papier noch sechs Panzerbataillone (von früher mehr als 50). Tatsächlich sind es jedoch nur noch vier, weil die zwei Reserveverbände weder über Ausrüstung noch über Soldaten verfügen. Bei "strukturbestimmendem Großgerät" (dazu gehören Kampf- oder Schützenpanzer) gibt es künftig keine Vollausstattung mehr. Für die reine Krisenintervention im Ausland scheint diese Sparmaßnahme sinnvoll: Nur das Bataillon, das in den Einsatz geht, erhält eine komplette Ausstattung, die anderen dagegen nur einzelne Waffensysteme zum Training. Doch für eine Landes- oder Bündnisverteidigung, für die die gesamte Bundeswehr mobil gemacht werden müsste, taugt dieses Modell nicht.

Die "Eurofighter"-Flotte der deutschen Luftwaffe soll von 177 auf 140 reduziert werden, die des noch nicht eingeführten Airbus-Transporters von 60 auf 40. Das russische Inventar umfasst insgesamt 5000 Militärflugzeuge, allerdings viele veraltete Maschinen. Gegen Angriffe aus der Luft könnte sich das deutsche Heer nicht mehr schützen, weil man davon ausging, dass Aufständische wie die Taliban nicht mit Flugzeugen angreifen, also eine Heeresflugabwehrtruppe nicht mehr nötig sei. Die Flakpanzer "Gepard" wurden darum unter anderem nach Brasilien verkauft.

Auch die Reserven fehlen: Während Norwegen gegenwärtig die Wehrpflicht auch für Frauen einführt, hat Deutschland sie 2011 abgeschafft. Die aus Reservisten bestehenden Heimatschutz-Bataillone waren schon vorher dem Rotstift zum Opfer gefallen. Versuche, wieder geschlossene, aber deutlich kleinere Reserve-Einheiten zum Heimatschutz aufzustellen, stecken noch in der Anfangsphase. Waffen und Fahrzeuge müssen sie sich bislang von der aktiven Truppe ausborgen.

Noch unheimlicher als die russische Aufrüstung im konventionellen Bereich ist indes das Modernisierungsprogramm für Atomwaffen: Mitten in der Ukraine-Krise testete Moskau demonstrativ die neue Rakete RS-24. Sie hat eine Reichweite von 12 000 Kilometern und trägt vier Atomsprengköpfe, die ihre Ziele unabhängig voneinander ansteuern können. Auf welche Ziele die russischen Nuklearwaffen, darunter die auf Lkw mobilen und darum schwer aufzuklärenden "Iskander"-Flugkörper - programmiert sind, weiß die Nato angeblich nicht. In Reichweite der "Iskander", die Gerüchten zufolge auch in der russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg) an der Ostsee stationiert sind, liegen aber unter anderem Berlin und Warschau.

Mutmaßlich sind die taktischen Einsatzgrundsätze der neuen russischen Streitkräfte weiterhin die der früheren Sowjetarmee. Das würde in einem Konflikt den sofortigen Einsatz von Nuklearwaffen einschließen. Papiere, die die DDR-Streitkräfte vor ihrer Auflösung nicht mehr rechtzeitig vernichten konnten, beweisen, dass zur Unterstützung eines Großangriffs auf die Nato fast 500 nukleare Gefechtsköpfe auf westdeutschem Boden explodieren sollten. Identische Pläne gaben auch die Tschechen an die Nato weiter.

Die SPD hat kürzlich die laufende Bundeswehr-Neuausrichtung kritisiert, rüttelt aber vor allem an aus ihrer Sicht zweifelhaften Standort-Entscheidungen. Der Kernfrage weichen indes alle deutschen Verteidigungspolitiker aus: Ist diese Bundeswehr für die Zukunft tatsächlich richtig aufgestellt? Die Vorgänge um die Ukraine könnten ein Warnschuss in letzter Minute sein.

(RP)
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