Überragende WM-Qualifikation Belgien ist der letzte Schrei der Fußball-Welt

Belgien hat mit Deutschland und den Niederlanden die beste WM-Qualifikation in Europa gespielt. Noch vor wenigen Jahren war der Fußball bei unseren Nachbarn am Boden. Inzwischen leistet die Mannschaft nicht nur sportlich Großes.

WM-Quali 2014: Belgien fährt nach Brasilien
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Arsene Wenger hat dieser Tage eine interessante Diagnose gestellt. Nach Ansicht des Arsenal-Coaches gebe es derzeit nur drei Nationaltrainer auf der Welt, "die nachts schlecht schlafen, weil sie zu viele talentierte Spieler haben." Wenger sprach von Deutschlands Trainer Joachim Löw, von Spaniens Vicente del Bosque — und von Belgiens Marc Wilmots.

Spätestens, als seine Spieler Wilmots am Freitag jubelnd in den Abendhimmel von Zagreb schleuderten, wären mögliche Schlafdefizite sowieso egal gewesen. Wilmots, das Schalker Kampfschwein a. D., hatte mit Belgien durch ein 2:1 gegen Kroatien vorzeitig die WM-Qualifikation geschafft, erstmals seit zwölf Jahren fahren die "Roten Teufel" wieder zu einem großen Turnier.

Glückwünsche gab es von König Filip. Premierminister Elio Di Rupo gratulierte noch auf dem Rasen. Gemeinsam mit dem deutschen Team und den Niederlanden steht die beste Quali-Bilanz in Europa zu Buche: acht Siege, ein Unentschieden, keine Niederlage.

"Der Hype ist groß"

Die abschließende Partie gegen Wales am Dienstag in Brüssel wird zum genüsslichen Schaulaufen. Ausverkauft ist das Stadion schon lange, wie jedes der vergangenen Heimspiele. Zum öffentlichen Training im König-Baudouin-Stadion kamen am Sonntag bei strömendem Regen 5000 Fans. Die Euphorie in Belgien und um Belgien kulminiert in der These, dass es sich bei dem Wilmots-Team aktuell um den letzten Schrei unter den 209 Fifa-Mitgliedern handelt, ein Borussia Dortmund der Nationalmannschaften. "Der Hype ist groß, die Spieler werden behandelt wie Heilige", sagt Kristof Terreur, Reporter der größten belgischen Zeitung "Het Laatste Nieuws".

Vergangenen Mittwoch hatten tausende Fans die Mannschaft am Flughafen in Richtung Kroatien verabschiedet. In der Nacht von Freitag auf Samstag hießen ähnlich viele ihre Quali-Helden zu Hause willkommen. Eine schöne Vorstellung, dass einige aufgrund von Schlaflosigkeit zweieinhalb Tage am Airport verharrt haben könnten — und sich mit Gedanken an Eden Hazard, Marouane Fellaini, Romelu Lukaku und Co. auf den harten Bänken im Terminal wälzten.

Die Startelf gegen Kroatien hatte einen Altersdurchschnitt von 24,7 Jahren, jeder Spieler war im Schnitt gut 20 Millionen Euro wert. Diese Faktoren mögen auf den ersten Blick so weich sein wie Ballbesitz oder gewonnene Zweikämpfe. Allerdings beeindrucken sie umso mehr, wenn man bedenkt, was Belgien fußballerisch seit der Jahrtausendwende gerissen hat — "wenig" ist noch ein charmantes Urteil.

Letztes Ausrufezeichen 2002

Die Heim-EM 2000 setzten die "Roten Teufel" historisch in den Sand, Aus in der Vorrunde. Anschließend wälzte der belgische Verband die Jugendarbeit grundlegend um, ähnlich wie der DFB zu jener Zeit. 2002 ließen die Belgier in Japan und Südkorea noch einmal aufhorchen. Die überalterte Truppe unterlag dem späteren Weltmeister Brasilien im Achtelfinale mit 0:2. Beim Stand von 0:0 war Belgien ein regulärer Treffer aberkannt worden. Schütze: der damals 33-jährige Marc Wiltmots.

In den folgenden Jahren des Umbruchs rutschte die Mannschaft auf das Niveau von Litauen oder Finnland ab, auf Augenhöhe mit Ländern, die sich noch nie für ein großes Turnier qualifiziert haben. Es gab Niederlagen in Armenien und Unentschieden in Kasachstan. Nach der verpassten WM 2010 ging es langsam bergauf. Um ein Haar hätte sich die aufstrebende Mannschaft immerhin wieder für die EM-Play-offs qualifiziert.

In den zwei Jahren danach ist Belgiens "Goldene Generation" regelrecht durch die Decke gegangen. Gut festhalten, jetzt wird es teuer: Offensivjuwel Eden Hazard schoss 20 Tore beim OSC Lille in Frankreich und wechselte für 40 Millionen Euro zum FC Chelsea, Mittelfeldspieler Axel Witsel ging für die gleiche Summe zu Zenit St. Petersburg. Für Moussa Dembele machte Tottenham 20 Millionen locker, noch etwas mehr der FC Chelsea für den damals 18-jährigen Stürmer Romelu Lukaku, der in Kroatien beide Tore erzielte. Lukaku ist mittlerweile an den FC Everton ausgeliehen, der am letzten Tag der Transferperiode 35 Millionen Euro von Manchester United für Marouane Fellaini einnahm.

Nein, das war's noch nicht. Kurz durchatmen, weiter geht es mit dem Ex-Bremer Kevin de Bruyne, der ebenfalls bei Chelsea unter Vertrag steht, genauso wie Thibaut Courtois. Der vermutlich beste Torwart der Welt unter 23 Jahren ist jedoch an Atletico Madrid ausgeliehen, wo er mit Außenverteidiger Toby Alderweireld spielt. In Kroatien fehlten noch zwei Top-Leute: Kapitän Vincent Kompany (Manchester City) und Torjäger Christian Benteke (Aston Villa). Auf der Bank saßen Liverpools Torwart Simon Mignolet und Arsenal-Verteidiger Thomas Vermaelen. Ok, ein allerletzter Name: Jan Vertonghen, der bei Tottenham Stammkraft ist.

Eine Nachbarschaftsmischung

Trotzdem sind es nur elf Spieler, die Wilmots in ein 4-2-3-1-System packt. Das Team zieht den Überfall dem Einigeln in der gegnerischen Hälfte vor. Bei seinen beiden Treffern in Kroatien lief Lukaku im Vollsprint seinen Gegnern davon und alleine aufs Tor zu. Hinten halten die Klasseleute, zu denen auch Bayern-Verteidiger Daniel van Buyten mit 35 Jahren noch zählt, den Laden diszipliniert zusammen. Und mit dem Ball können die jungen Spieler dank ihrer Ausbildung in belgischen Nachwuchszentren sowieso umgehen. Unterm Strich vereinen sie momentan traditionelle Stärken ihrer geografischen Nachbarn: Ehemals typisch deutsche Tugenden gepaart mit "Voetbal totaal" aus den Niederlanden und der künstlerischen Finesse der Franzosen — in dieser Form einzigartig.

Die belgischen Stars spielen zwar im Ausland, vornehmlich in England. Aber vor dem Hintergrund, dass alle 16 Erstligavereine zusammen weniger Umsatz machen als Borussia Dortmund, tut sich auch in der Jupiler Pro League etwas. International haben es vier Teams in die Gruppenphasen geschafft. Der RSC Anderlecht setzte jüngst in der Champions League den erst 16-jährigen Youri Tielemans ein. Im Sommer kam das serbische Talent Aleksandar Mitrovic für die Rekordsumme von fünf Millionen Euro. Und der FC Chelsea vertraut Eden Hazards jüngeren Bruder Thorgan, erst 20 Jahre alt, immerhin als Leihspieler dem SV Zulte Waregem an. Nicht alles glänzt, aber den Belgiern gelingt es momentan, selbst Holz aufzupolieren.

Jetzt sind es noch acht Monate bis zur WM in Brasilien und Topstar Eden Hazard denkt schon einen Schritt weiter. "Wir haben keine Lust, dorthin zu reisen, um drei Spiele zu machen und zurückzukommen", sagt der 22-Jährige, dessen Stil dem eines Marco Reus ähnelt.

Das Land geeint

Die Erfolge in der Qualifikation haben ihnen Selbstbewusstsein gegeben, das Selbstbewusstsein hat ihnen immer mehr Siege gegeben — dieses Schneeballsystem rollt in Richtung Brasilien. Wer an die soziale Kraft des Fußballs glaubt, kann den Wiltmots-Schützlingen sogar attestieren, sie hätten eine gespaltetene Nation geeint. Witsel, Lukaku, Dembele, Benteke, Fellaini haben alle Migrationshintergrund, auch davon zehrt diese Mannschaft. Das alte Entweder-oder — flämisch oder wallonisch — hat sich zuerst auf dem Fußballplatz, dann auf den Tribünen überholt.

Schon jetzt dürfen sie sich auf die WM-Auslosung am 6. Dezember freuen. Die Quali-Erfolge haben Belgien in der Fifa-Weltrangliste innerhalb eines Jahres vom 53. auf den sechsten Platz gespült. Das System hat ein gutes Kurzzeit- und ein schlechtes Langzeitgedächtnis, deshalb kann es so schnell gehen. Bei einem Sieg gegen Wales winkt der Sprung auf Rang vier. Klar ist: Die Kugel mit dem "Belgium"-Zettel wird in Topf eins liegen — neben "Germany", "Spain", "Brazil". Vielleicht doch ein Grund für Trainer Wilmots, nachts ein paar Stunden wach zu liegen.

(can)
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